Die Geschlechtshormone
Wenn man wie wir Hunde züchtet oder aber einen Deckrüden hält, ist das hormongesteuerte Sexualverhalten natürlich erwünscht. Unsere Hündinnen sind etwa alle 9 Monate läufig. Während dieser Zeit sind wir besonders aufmerksam, meiden allzu bevölkerte Hundewiesen und beobachten unsere Hündinnen sehr genau. Während der fruchtbaren Tage dürfen sie nicht einmal alleine in den Garten, könnte doch ein verliebter Rüde unseren Zaun überwinden und zu einem Stelldichein bitten.
Hält man nun einen Hund, der nicht zur Fortpflanzung vorgesehen ist, kann man schnell in Versuchung kommen, dem Wirken der Geschlechtshormone ein Ende zu machen. Sei es, um lästige Blutungen auszuschließen, das Ausbüchsen seines verliebten Rüden zu verhindern oder auch dessen möglicherweise aggressives Machogehabe zu beenden, ganz zu schweigen von ungewollter Liebelei mit Folgen. Aber auch die Gesundheit kann bei der Entscheidung eine Rolle spielen, wenn man annimmt, durch Kastration die Gefahr von Mammakarzinomen, Prostatakrebs usw. zu verringern. Oft fragt auch ein Tierarzt gleich beim ersten Besuch, wann denn die Kastration geplant werden soll. Ich möchte hier (wieder einmal) Dr. Irene Sommerfeld-Stur aus ihrem Buch "Rassehundezucht - Genetik für Züchter und Halter" zitieren. Ich gebe nicht alle Details wieder, dem interessierten Leser kann ich das Buch wirklich sehr ans Herz legen:
Eine Kastrationsentscheidung sollte in jedem Fall sehr genau überlegt werden, denn die Geschlechtshormone sind nicht nur für das Sexualverhalten im Rahmen der Fortpflanzung verantwortlich. Sie interagieren mit anderen Hormonen und Neurotransmittern und spielen in fast allen Stoffwechselbereichen eine Rolle. Sie sind zudem in der Lage, bis in den Zellkern vorzudringen und dort zu Schaltungen an der DNA beizutragen. Geschlechtshormone sind daher auch epigenetisch relevant. Diese Eigenschaft teilen sie übrigens mit dem Stresshormon Cortisol. Wissen sollte man zudem, dass die Produktion der Geschlechtshormone nicht auf das jeweilige Geschlecht begrenzt ist. Männliche Geschlechtshormone werden auch im weiblichen Organismus produziert (...) und umgekehrt (...).
Neben der Steuerung des Sexualverhaltens wirkt Testosteron insgesamt anregend und aktivierend, und es kann die Aggressivität steigern. Letzteres führt dann sehr oft dazu, dass ein Rüde, der durch Aggressivität auffällt, kastriert wird. Eine Kastration kann aber nur dann die Aggressivität senken, wenn diese tatsächlich durch einen erhöhten Testosteronspiegel zustande gekommen ist. Da es aber zahlreiche andere Ursachen für aggressives Verhalten gibt, wird eine Kastration ohne genauere Analyse der Gründe für das Verhalten nur in einem Teil der Fälle wirksam werden.
Was für den Rüden Testosteron, ist für die Hündin Östrogen. Es wirkt aktivitätssteigernd, belebend und zeigt, wie Testosteron auch, Wechselwirkungen mit verschiedenen Neurotransmittern. Hier sind ebenfalls Serotonin und Dopamin Mitspieler des Östrogens, aber auch Noradrenalin und Glutamat, die beide u.a. für Lernen und Gedächtnis verantwortlich sind. Besonders wichtig scheint die Interaktion mit Oxytocin, welches seine angenehme und angstmindernde Wirkung in Gegenwart von Östrogen stärker entfaltet (...)
Von den Studien zu den Folgen der Kastration (Übersicht bei Sanborn, 2007) sei eine wegen ihrer eindrucksvollen Aussage hervorzuheben. Diese Studie wurde bei 189 Rottweilerhündinnen durchgeführt (Waters et al., 2011). Die durchschnittliche Lebenserwartung in dieser Rasse liegt in der untersuchten Population bei 9,4 Jahren. In dieser Population gab es eine Gruppe von Hündinnen, die auffallend älter wurden als der Durchschnitt der Rasse. Es waren 83 Hündinnen, die älter als 13 Jahre alt wurden. Es wurde nun ein Vergleich zwischen der Gruppe der sehr alten Hündinnen und der Gruppe durchgeführt, die die normale Lebenserwartung erreicht hatten. Das faszinierende Ergebnis war, dass, je länger die Hündinnen unter Östrogeneinfluss waren, umso größer war ihre Chance, zu den besonders alten zu gehören (...). Eine überzeugendere Argumentation gegen eine Kastration einer Hündin gibt es wohl kaum.
Bei einer Entscheidung für eine Kastration bei einer Hündin sollten auch die möglichen psychischen Folgen bedacht werden. Der allgemein belebende und aktivierende Einfluss des Östrogens entfällt, Hündinnen können daher in Abhängigkeit von ihrer sonstigen genetischen Ausstattung phlegmatischer, unsicherer und unter Umständen sogar aggressiver werden (...)
Dies sei nur ein Auszug, weiteres ist, wie gesagt, im Buch nachzulesen. Dort wie an vielen anderen Stellen findet man auch Informationen zu gesundheitlichen Risiken einer Kastration. Schon immer war bekannt, dass jede Operation per se risikobehaftet ist. Ebensowenig neu ist es, dass kastrierte Hunde häufig unter Harninkontinenz, Fettleibigkeit und Schilddrüsenunterfunktion leiden. Fellveränderungen seien hier nur am Rande genannt. Dem gegenüber wird häufig argumentiert, dass kastrierte Hündinnen kein Mammakarzinom und Rüden keine Hoden- und Prostatatumore entwickeln können. Das mag stimmen, aber dafür steigt das Risiko für andere Krebsarten bei kastrierten Hunden markant an. Sehr interessant zu dem Thema ist der Artikel von dem Tierarzt Ralph Rückert: "Die Kastration beim Hund - Ein Paradigmenwechsel" Er berichtet von Studien, bei denen bei kastrierten Hunden ein mehrfach erhöhtes Risiko für Mastzelltumore, Lymphosarkome, Knochenkrebs und weitere Tumorerkrankungen sowie Beeinträchtigungen des Immunsystems festgestellt wurden. Hier findet man noch weitere Erkenntnisse zum Einfluss der Kastration auf die Gesundheit des Hundes - bitte unbedingt lesen!
Ein Artikel zur Frühkastration von Kurt Kotrschal: Skalpell sollte immer nur Ultima Ratio darstellen. Eine US-Untersuchung zeigt, dass Frühkastrieren von Hunden eine Vielzahl an gesundheitlichen Problemen nach sich ziehen kann
Die Süddeutsche Zeitung: "Kastration von Hündinnen: Mit falschen Zahlen operiert"
Wuff 2010/12: "Die Kastration des Rüden aus verhaltensbiologischer Sicht"
Wuff 2011/02: "Die Kastration der Hündin aus verhaltensbiologischer Sicht"
Studie zu den Auswirkungen der Kastration auf das Risiko von Autoimmunerkrankungen
In dem tiermedizinischen Fachbuch „Reproduktionsmedizin und Neonatologie von Hund und Katze“ von Prof. Dr. Anne-Rose Günzel-Apel und Prof. Dr. Hartwig Bostedt werden als häufigste Komplikationen bei einer Kastrationsoperation Hämorrhagien, Wundheilungsstörungen und das Zurücklassen von Ovargewebe genannt. Bei endoskopischer Kastration können durch das Setzen der Trokare Verletzungen der Milz erfolgen. Die häufigste Todesursache nach Kastrationen seien Blutungen. Als häufigste Nebenwirkungen und Folgen der Kastration werden auch hier Harninkontinenz, Fellveränderungen, Fettleibigkeit, Vulvaentzündungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Tumorentstehung und Verhaltensänderung genannt.
Hier ist ein sehr schöner Facebook-Beitrag zu dem Thema: Kastration von jungen Hunden (drei- bis vierjährig) - Bitte nicht!
Zu guter Letzt möchte ich noch auf das Tierschutzgesetz hinweisen. Hier steht unter anderem:
§ 6: Verboten ist das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres. (...)
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